Initiative für Aufklärung und Betroffenenschutz

Zum Gewalt- und Missbrauchsfall an der Waldorfschule Überlingen: Die Hölle im Klassenzimmer

Wie ein schwerer Waldorfskandal vor 30 Jahren ein pädagogisches Ideal erschütterte – und warum die Aufarbeitung erst jetzt beginnt

Der erschütternde Skandal an der Freien Waldorfschule Überlingen beginnt 1990 mit der Einstellung eines Lehrers, der in der Folge Kinder misshandelte und sexuell missbrauchte. Er handelt von einem Schulvorstand, der von dessen krimineller, pädophiler Vergangenheit wusste, ihn trotzdem als Klassenlehrer einstellte und bis zuletzt deckte. Von einer Schulgemeinschaft, die schwieg, von Schüler:innen, die ihrem Trauma bis heute selbst überlassen blieben. Und einem pädagogischen System, das die eigene Verantwortung offenbar lieber spirituell umdeutete und Aufarbeitung verhinderte. Nun wurde ein umfassender Bericht veröffentlicht, der die Abgründe offenbart: Drei Jahrzehnte nach den Taten legt der Abschlussbericht des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) offen, was an der Freien Waldorfschule Überlingen geschah – und warum es längst nicht nur einen Täter gibt. Eine echte Aufarbeitung steht weiterhin aus.

Es ist ein Oktoberabend am Bodensee: Das Dorfgemeinschaftshaus Überlingen-Nußdorf ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Ehemalige Schüler:innen, Eltern, Lehrkräfte sitzen nebeneinander, die Stimmung beschreiben Anwesende als angespannt. Vor ihnen steht ein Projektor, auf der Leinwand erscheinen nüchterne Worte zu einem erschütternden Thema: „Sexualisierte, körperliche und psychische Gewalt an der Freien Waldorfschule Überlingen 1990–1993“.

So beginnt die öffentliche Präsentation des alarmierenden, im Oktober 2025 veröffentlichten IPP-Abschlussberichts, der keinen großen Spielraum für Interpretationen zulässt. Es ist ein Abend, an dem eine institutionelle Fassade endgültig zerbricht. Denn was hier dokumentiert wird, ist kein tragisches Missverständnis, sondern legt das Versagen einer ganzen Institution offen – und eines schulischen Systems, das den Schutz der Kinder dem Schutz seiner eigenen Idee opferte.

Ein pädophiler Lehrer mit krimineller Vergangenheit – und ein Vorstand, der davon wusste

Die Geschichte beginnt im Jahr 1990. Die Schule sucht einen neuen Klassenlehrer, jemanden, der die erste Klasse übernehmen soll. Die Wahl fällt auf Konrad Z., einen Waldorfpädagogen, der auf viele einen charismatischen Eindruck macht. Doch Z. trägt eine dunkle Vergangenheit mit sich: In der Schweiz war er wegen sexueller Handlungen an einem Kind angeklagt – und schließlich verurteilt worden. Das Urteil war rechtskräftig, das Berufsverbot in verschiedenen Schweizer Kantonen eindeutig.

Der damalige Vorstand der Schule – namentlich anonymisiert, im IPP-Bericht als Ulrich N. bezeichnet – wusste bereits bei der Einstellung von dessen alarmierender Vorgeschichte. Der Lehrer selbst sprach sie im Bewerbungsgespräch an, auch wenn er sich als Opfer einer Intrige darstellte – als missverstandener Pädagoge, der „nur zu viel Nähe“ gesucht habe. Dennoch legte er vor der Einstellung nicht nur bereits seine pädosexuellen Neigungen offen, sondern auch die Tatsache, dass er sich an einem Kind vergangen hatte.

Anstatt den Sachverhalt weiter zu prüfen und die Behörden einzubeziehen, suchte der Vorstand Rücksprache beim Bund der Freien Waldorfschulen sowie beim Goetheanum (Hochschule und Anthroposophie-Zentrum in der Schweiz). Von dort soll kein Einwand gekommen sein, sondern lediglich die Empfehlung, den Mann pädagogisch zu begleiten, so die Forscher:innen des IPP. Weiter heißt es: Der Justiziar vom Bund der Freien Waldorfschulen bestätigte den sexuellen Übergriff durch Z. an einer Schülerin – betonte aber, er halte den Lehrer „für einen völlig integeren Menschen“. Der Justiziar spricht sich explizit gegen eine Benachrichtigung des Kollegiums aus, da man sonst „irgendeinen Anlaß gesucht hätte, um Herrn [Z.] los zu werden“.

Zwei Mütter, die von der Vorgeschichte des Lehrers wussten, warnten den Schulvorstand ausdrücklich vor dessen Einstellung. Doch ihre Stimmen blieben laut IPP-Bericht ungehört: Der Vorstand entschied, Z. einzustellen, dessen Vergangenheit zu verschweigen bzw. den wenigen Mitwissenden zu versichern, dass er den Klassenlehrer „im Auge behalte“. Das Kollegium wurde nicht informiert, die Elternschaft ebenfalls im Ungewissen über die kriminelle Vergangenheit des Lehrers gehalten. Durch die bewusste Nichtweitergabe von Informationen und die Einstellung eines strafrechtlich verfolgten, pädophilen Lehrers nahm der Schulvorstand somit bewusst eine institutionelle Gefährdung der Kinder in Kauf – das geht aus dem IPP-Bericht unmissverständlich hervor. Und sie war erst der Anfang einer Geschichte, die in einem der gravierendsten Missbrauchsfälle der Waldorfgeschichte enden sollte – und eines institutionell getragenen Vertuschungsskandals, der bis heute nicht aufgearbeitet wurde.

Drei Jahre Gewalt, Angst und Missbrauch im Klassenzimmer

Zwischen 1990 und 1993 unterrichtet Konrad Z. dieselbe Klasse – Kinder zwischen sechs und zehn Jahren. Was in diesen Jahren geschieht, rekonstruieren die IPP-Forscher:innen aus Interviews mit ehemaligen Schüler:innen, Eltern und Lehrkräften. Die Betroffenen berichten von Schlägen, cholerischen Ausbrüchen, von schwerer körperlicher wie psychischer Gewalt, von Erniedrigungen und Manipulation – und schließlich von sexuellen Übergriffen. 

Ein Mädchen erzählt, Z. habe ihr im Unterricht die Zöpfe abgeschnitten, weil sie verträumt an ihren Haaren gespielt habe. Mehrere Schüler:innen erinnern sich, dass der Lehrer sie zur Strafe dazu zwang, sich in den Mülleimer zu stellen, um sich „wie Müll zu fühlen“, und ihren Mund mit Seife auswusch, wenn sie „ungehörige“ Wörter verwendeten. Teilweise warf er nach Berichten der Betroffenen in Gewaltausbrüchen seine Schüler:innen über Bänke und Tische oder in einem dokumentierten Fall sogar aus dem Fenster im Erdgeschoss.

Die ehemaligen Schüler:innen berichten zudem von Reißzwecken und Nadeln, die Konrad Z. zwischen die Finger klemmte, bevor er auf ihre Hände schlug, bis sie vor Schmerzen aufschrien oder weinten. Auch habe er ihnen immer wieder Schuldgefühle gemacht – so dass sie sich für seine brutalen Strafen im Kollektiv verantwortlich fühlen sollten: Einmal wurde ein in der Klasse beliebter Junge – laut Z. stellvertretend für die Klasse – vor den Augen aller übers Knie gelegt und vom Klassenlehrer heftig verprügelt. Dies wurde vom Schulvorstand später als „härter angefasst“ bewusst bagatellisiert und vor der Elternschaft verteidigt.

Weitere Schüler:innen erzählen von sexuellen Übergriffen – von erzwungenen Umarmungen, grenzüberschreitenden Gesten und Handlungen, die er „Zuwendung“ und „Liebe“ nannte, schließlich sogar Berührungen an intimen Körperstellen. Man habe ihm seine Zuneigung zeigen müssen, schildern ehemalige Schüler:innen laut IPP-Bericht. Die Kinder sollten ihm glauben, das alles gehöre zu seiner Erziehung, zu seiner Idee von Nähe zu den Schüler:innen.

In der Waldorfpädagogik ist der oder die Klassenlehrer:in eine zentrale Figur. Er oder sie begleitet die Kinder acht Jahre lang, soll als „geliebte Autorität“ eine moralische Instanz und emotionales Vorbild sein, sogar eine Art weiteres Elternteil und eng verbundene:r Seelenbegleiter:in darstellen – mit der Gefahr, dass eine solch überhöhte Lehrerfigur als erhaben über Zweifel und Kritik gelten kann. In Überlingen nutzte Z. seine besondere Rolle, um Macht über seine Schüler:innen auszuüben – und um sie zu missbrauchen.

Das Geständnis – und der nächste Verrat

Während die Gewaltausbräuche des Lehrers wiederholt heruntergespielt worden seien, wurde im Jahr 1993 das Schweigen endgültig gebrochen: Zwei Kinder berichten, dass sie sexuell missbraucht wurden. Die Schulleitung konfrontiert den Lehrer damit – und Z. gesteht sofort. Doch was dann geschieht, markiert den nächsten Skandal: Der Lehrer darf noch zwei weitere Tage unbeaufsichtigt unterrichten, der Schulvorstand erlaubt eine persönliche Verabschiedung „seiner“ Schüler:innen. Konrad Z. nutzt diese Zeit laut Bericht, um die Klasse gezielt auszufragen und zu manipulieren – sie sollen ihm einzeln ein Geständnis ins Ohr flüstern, ob sie von den Gründen seines Abschieds wüssten. Schließlich hält er eine Verabschiedungsrede, die sich wie ein geradezu perverses Ritual der Täterinszenierung und Schuldumkehr darstellt: Er berichtet den Schüler:innen, er müsse gehen, weil er sie „zu sehr liebe“ und dies nicht geduldet sei, so der IPP-Bericht. Er vermittelt den Kindern das Gefühl, sie hätten ihm Unrecht getan oder seien verantwortlich dafür, dass er gehen müsse.

Anstatt dem Lehrer sofort zu kündigen, Anzeige zu erstatten und die Behörden einzuschalten, schließt die Schule einen wohlwollenden Aufhebungsvertrag, so das IPP. Die Schulleitung informiert weder Polizei oder Staatsanwaltschaft noch die Schulaufsicht. Auch der Justiziar vom Bund der Freien Waldorfschulen rät von einer Anzeige ab, wie aus dem Bericht hervorgeht. Der Elternschaft sei zudem in Gesprächen vermittelt worden, dass man besser von einer Anzeige und Behördenschritten absehen sollte.

Wochen später, als weitere Dritte von den Taten erfahren, wird schließlich anonym Anzeige erstattet und die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen auf. Der Täter sei sofort „vollumfänglich geständig“, heißt es in der Anklageschrift – er habe eine detaillierte schriftliche Erklärung für seine pädosexuelle Neigung abgegeben, aus der jedoch keinesfalls Reue oder Einsicht spricht: Konrad Z. verteidigt sich und behauptet darin, dass Kinder sexuelle Handlungen mit Erwachsenen angeblich sogar „genießen“ könnten, wenn diese von Liebe geprägt seien – problematisch sei dies nur, wenn Kinder mit der gesellschaftlichen Tabuisierung solcher Handlungen konfrontiert würden. Er inszeniert sich hier erneut als Opfer eines feindlichen Systems, das seine Liebe zu Kindern kriminalisiere.

1994 wird der ehemalige Waldorflehrer zu zwölf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Fraglich ist, inwiefern das erschütternd selbstgerechte Geständnis eines pädosexuellen und gewalttätigen Wiederholungsstraftäters, das jedes Unrechtsvermögen vermissen lässt, eine derartig milde Strafe rechtfertigt. Fakt ist: Die Schulverantwortlichen verteidigen ihren ehemaligen Lehrer auch noch vor Gericht, loben seine pädagogischen Fähigkeiten und sein Engagement als Lehrer in höchsten Tönen. Selbst in der Elternschaft ist die Loyalität gegenüber der Waldorfschule und Z. so ausgeprägt, dass einige ihn noch nach dessen Verurteilung verteidigen und die Opfer des sexuellen Missbrauchs laut IPP-Bericht regelrecht anfeinden. Z. hält sich zudem nicht an die Auflage, sich der Waldorfschule Überlingen sowie seinen Opfern fernzuhalten und wird wiederholt dort gesichtet. Die betroffene Familie, die dem Verzicht auf eine Anzeige gegen Z. zuvor zugestimmt hatte, sieht sich laut Bericht aufgrund dieser Vorfälle sowie Mobbing und Ausgrenzung gezwungen, aus der Region fortzuziehen.

Spirale des Schweigens

Wie konnte das geschehen – mitten in einer Schulgemeinschaft, die sich Freiheit und Menschlichkeit auf die Fahnen schreibt? Der IPP-Bericht nennt das Phänomen „Segregation des Wissens“: Informationen waren verteilt, aber niemand verband sie und handelte so, wie es geboten wäre. Auch anfangs im Ungewissen gehaltene Lehrkräfte wussten schließlich Bescheid, Eltern ahnten längst etwas, der Vorstand Ulrich N. war fast von Beginn an voll im Bilde – und doch stoppte niemand den übergriffigen Lehrer. N. sah es offenbar als seine klare Aufgabe an, den Lehrer bis zuletzt zu decken und zu schützen – die Opfer hingegen ließ er im Stich. Es erfolgte gemäß IPP niemals eine Aufarbeitung mit den Schüler:innen, sie wurden weder schulpsychologisch betreut noch pädagogisch aufgefangen – stattdessen wurde die nunmehr als schwierig und auffällig geltende Klasse problematisiert, in der Folge mehrere Kinder sogar der Schule verwiesen.

Kritik innerhalb der anthroposophischen „Schicksalsgemeinschaft“ sei höchst problematisch, betonen Kritiker:innen immer wieder – dass Zweifel nicht erwünscht waren, man entweder grenzenlos loyal war oder befürchtete, mit Widerstand die Gemeinschaft zu „gefährden“ und nicht mehr dazuzugehören, zeigt sich im Bericht zum Überlinger Fall deutlich. Mitglieder der Schulgemeinschaft geben im Rückblick zu verstehen, dass man einen Skandal verhindern wollte und Angst um den Ruf der Schule hatte. Diese Haltung prägt laut Kritiker:innen des Waldorfsystems nicht nur Überlingen, sondern ist systemisch tief verankert.

In der Waldorfpädagogik ist die Gemeinschaft ein zentrales Ideal – das „Gemeinschaftswesen“ soll harmonisch, geschlossen und seelisch verbunden sein. Doch genau dieses Ideal machte eine klare Grenzziehung unmöglich. Der Bericht des IPP kommt zu dem Schluss, dass die starke Binnenorientierung und spirituelle Deutungen „gewaltbegünstigende Strukturen“ darstellen. Letztlich stellt sich die Frage: Kann oder will der- oder diejenige, der/ die glaubt, am „Guten“ zu arbeiten, das Schlechte, Falsche und Abgründige überhaupt sehen – auch wenn es sich direkt vor den eigenen Augen abspielt? Der Bericht wirft hier erhebliche Zweifel auf – über Vorstand und Schulleitung hinaus betrifft dies auch die in Teilen moralisch fragwürdige Haltung von Lehrer- und Elternschaft, deren Loyalität zum Teil so weit ging, dass man die Schuld lieber auf die Missbrauchsopfer projizierte.

Der Schulvorstand: Mitwissen, Schuld und Vertuschung

Im Zentrum des Versagens steht nach dem IPP-Bericht der damalige Vorstand Ulrich N.: Er wusste von der kriminellen Vergangenheit und pädophilen Neigung des Lehrers, schließlich auch von der Schweizer Verurteilung und dessen dortigem Berufsverbot – und dennoch traf N. zuerst die Entscheidung zu seiner Einstellung und schließlich seiner weiteren Deckung und Vertuschung der Taten. Als der Missbrauch durch Z. an der Überlinger Schule bekannt wurde, entschieden Vorstand und Schulleitung: Wiederholte Gewalt wurde bagatellisiert, auch wegen sexuellen Missbrauchs keine Anzeige erstattet, das Einschalten der Schulaufsicht unterlassen, keine ansatzweise adäquate Hilfe für die Opfer geboten. Damit war der institutionelle Schutz der Kinder nicht nur endgültig aufgegeben, man hatte sie einem Gewalt- und Sexualstraftäter regelrecht ausgeliefert.

Trotz dieser Rolle blieb Ulrich N. über Jahre in führenden Positionen im Bund der Freien Waldorfschulen tätig, später als Berater für Waldorfschulen und Waldorf-Führungskräfte – einer Aufgabe, der er offenbar bis heute beruflich nachgeht. Weder wurde er behördlich gemeldet, noch musste er jemals persönliche Verantwortung übernehmen – dies sorgt bis heute für Empörung und Unverständnis bei Betroffenen. Aus dem Bericht geht deutlich hervor, dass die Schulverantwortlichen, allen voran der Vorstand, Entscheidungen trafen, deren Priorität nicht der Schutz der Kinder war, sondern die Deckung des Lehrers und schließlich die Wahrung der institutionellen und eigenen Integrität.

Täter-Opfer-Umkehr: Zwischen Loyalität, Angst und Bedrohung

Auch in der Elternschaft gab es bereits zu Beginn Mitwissende – und gemeinschaftlichen Druck. Eltern, die von der Schweizer Vorgeschichte Z.s wussten, sahen in Absprache mit dem Vorstand von weiteren Schritten ab, um die Schulgemeinschaft vermeintlich zu schützen. Auch später, als schließlich die meisten Eltern von den Gewalt- und Missbrauchsvorfällen wussten, kam man dennoch innerhalb der Schulgemeinschaft überein, von einer Anzeige gegen den Lehrer abzusehen, heißt es im IPP-Bericht.

Viele Eltern waren bis zuletzt überzeugt von der Integrität der Schule und des Lehrers Z. – wer zweifelte, behielt dies für sich oder bekam Probleme. Die Mutter der beiden missbrauchten Geschwisterkinder etwa, die Anzeige gegen den Lehrer erstatten wollte, berichtet, sie sei von Z. selbst sowie Teilen der Elternschaft massiv unter Druck gesetzt worden und man habe ihr vorgeworfen, den Missbrauch an ihren Kindern „an die große Glocke gehängt“ zu haben. Anonym sei ihr sogar mit Entführung und dem Tod ihrer Kinder gedroht worden, wenn sie weitermache. Lehrer Z. inszenierte sich laut IPP weiterhin als Opfer und „Ernährer einer großen Familie“, welche man durch eine Anzeige gefährde.

Die Schule organisierte nach dem Ausscheiden des Lehrers keinerlei schulpsychologische Betreuung für die Klasse oder Aufarbeitung für deren Familien. Stattdessen habe man den traumatisierten Schüler:innen vermittelt, man müsse die Schuld gemeinsam tragen – eine Bürde, die viele Betroffene noch Jahrzehnte später verfolgt: „Ich glaube, wir haben diese Schuld einfach mitgenommen“, sagt ein:e ehemalige:r Schüler:in im IPP-Bericht, welcher das Fazit zieht: Das Schulsystem versagte nicht nur in seiner Pflicht, Schaden von den Kindern und Familien fernzuhalten, sondern auch darin, diese nach erlittenen schweren Traumata und klaren Anzeichen von posttraumatischen Belastungsstörungen aufzufangen – von einer „Dynamik der aggressiven Exklusion“ sprechen die Forscher:innen – mit „verheerenden Wirkungen auf die soziale Situation“ der Familien und „auf Grundlage eines auf sie projizierten Scheiterns“.

Es ging noch weiter: Das Schulsystem unterstützte nicht nur gefährliche Dynamiken von Schuldumkehr und Opfer-Exklusion, es verstieß laut Bericht sogar „jene Personen, die zuvor von ihm geschädigt worden waren“: Nicht nur mangelte es an Verständnis für die Gewalt- und Missbrauchsopfer, die ehemalige Klasse des Lehrers Z. wurde noch für schwierig erklärt, fünf Schüler:innen wegen „problematischen Verhaltens“ in der Folge der Schule verwiesen. Die Forscher:innen kommen zu dem Schluss: „Die Entlassung dieser Schüler impliziert eine Schuldumkehr par excellence“. Die Klasse galt fortan als schwierig, die „problematischsten“ Kinder wurden sogar entlassen, doch die Ursache für ihr rebellierendes Verhalten wurde weder in den traumatischen Erlebnissen von Gewalt und Missbrauch durch den kriminellen Ex-Lehrer Z., noch den schweren schulischen Versäumnissen seit seiner Einstellung und nach dem Ausscheiden des Lehrers gesehen.

Ein System, das Fehler nicht erkennt

Der Überlinger Missbrauchsskandal kann nicht einfach als trauriger Einzelfall abgetan werden. Verschiedene Medien, u.a. Krautreporter, beschreiben in ihrer Recherche, wie die Strukturen der Waldorfpädagogik – Selbstverwaltung, mangelnde Transparenz und Kontrolle, spirituelle Binnenlogik, Gemeinschaftsdruck und Loyalitätsforderungen, Hierarchien im Kollegium – Gewalt, Missbrauch und Vertuschung begünstigen können. Auch der IPP-Bericht bestätigt: Die Kombination aus charismatischer Lehrerrolle, fehlender Kontrolle, internen und intrasparenten Machtstrukturen, einem abgeschotteten, ideologisch geprägten System mit Loyalitätserwartung gegenüber der Gemeinschaft und Misstrauen nach außen schafft ein erhebliches strukturelles Risiko.

Inwiefern ist es somit gerechtfertigt und zutreffend, die Ursachen für den Fall Überlingen auch in Waldorf-internen Strukturen zu suchen – und haben sich die anthroposophischen Einrichtungen in den vergangenen 30 Jahren sichtbar verändert? Hierzu gibt es geteilte Meinungen. Fest steht: Der IPP-Bericht kommt immer wieder auf Waldorf-spezifische Strukturen zu sprechen, auch die Opfer selbst betonen diese bei der Ursachenergründung und der Entwicklung künftiger Präventionsstrategien.

Bis heute sind die Lehren Rudolf Steiners ein zentraler Bestandteil in der Waldorfpädagogik; an den fundamentalen Idealen und Strukturen hat sich wenig verändert, noch immer sind Waldorfschulen rechtlich eigenständige Einrichtungen und unterstehen nicht unmittelbar einer zentralen Aufsicht. Präventions- und Schutzkonzepte hängen weiterhin stark vom Engagement einzelner Personen ab, eine externe Kontrolle ist nicht vorhanden. So entsteht eine paradoxe Situation: Ein System, das Freiheit predigt, verfügt laut Beobachter:innen und Kritiker:innen nicht über ausreichende Strukturen, um Macht zu begrenzen und zu kontrollieren. Der Fall Überlingen zeigt: Selbstverwaltung ohne transparente Kontrolle kann zu gefährlicher Selbstabschottung führen.

Die Opfer trugen laut IPP-Bericht verschiedene Überlegungen zur Gewalt- und Missbrauchsprävention zusammen. Einige der Betroffenen kritisieren die unkontrollierten, intransparenten Machtstrukturen, die überhöhte Autoritätsstellung des Waldorf-Klassenlehrers und eine Kultur des Schweigens in einer spirituellen Bewegung, die dazu neige, das „Schlechte“ in der Welt lieber auszuklammern und die Welt zu beschönigen. Einige ehemalige Schüler:innen lassen deutlich skeptische Töne zur mangelnden „kritischen Selbstreflexion der Waldorfbewegung“ durchklingen – das Fehlen einer Kritikfähigkeit nach innen sowie Öffnung nach außen, welche zu einem Nährboden für Machtmissbrauch und Gewalt in schulischen Institutionen beitragen können.

Das Märchen von der „sofort handelnden Schule“: ein Täuschung

Als die Schwäbische Zeitung bereits 2010 erstmals über die Gewalt- und Missbrauchsfälle an der Waldorfschule Überlingen berichtete, reagierte die Schule keineswegs mit selbstkritischer Aufarbeitung – sondern mit einer beschwichtigenden, Tatsachen verzerrenden Presseerklärung (hier: Schwäbische Zeitung). Darin hieß es, der Lehrer Konrad Z. sei „sofort vom Unterricht ausgeschlossen, nach Klärung des Vorfalls fristlos gekündigt und mit Hausverbot belegt“ worden. Doch auch das IPP stellt klar: die dokumentierten Akten zeichnen ein völlig anderes Bild. Weder wurde der Lehrer umgehend vom Unterricht suspendiert, noch erfolgte eine Kündigung. Schwere Gewalt wurde wiederholt heruntergespielt, nach seinem sexuellen Übergriff durfte Z. noch zwei Tage weiter unterrichten, seine Klasse emotional beeinflussen und die Taten mit der grotesken Begründung rechtfertigen, er habe „zu viel Liebe“ gezeigt. Erst danach wurde ein Aufhebungsvertrag geschlossen, von einer Strafanzeige sah die Schule bewusst ab.

Auch weitere Darstellungen aus der damaligen Erklärung entpuppen sich als unzutreffend. Die Schulleitung erklärte, man habe den Sachverhalt damals umfassend geprüft und Z. eingestellt, weil er als unschuldig galt und in der Schweiz freigesprochen worden wäre – tatsächlich endete das Strafverfahren gegen ihn am 20.08.1990 mit einer rechtskräftigen Verurteilung. Angeblich habe die Waldorfschule Überlingen zudem aufklärende und präventive Veranstaltungen durchgeführt. Interviews mit Lehrkräften und Dokumente aus jener Zeit zeigen jedoch laut IPP, dass es gerade keine systematischen Sensibilisierungs- oder Präventionsmaßnahmen gab. Erst ab 2022 auf Forderung ehemaliger Schüler:innen beschloss die Freie Waldorfschule Überlingen, den Fall extern aufklären zu lassen und ein Konzept zur Gewaltprävention zu entwickeln. Die Darstellung, man habe bereits 2010 „wirksame Prävention“ betrieben, ist nachweislich falsch.

Der IPP-Bericht entlarvt die Waldorf-Presseerklärung als Beispiel eines kritisierten Musters, das Betroffene wiederholt beschreiben: Statt sich den eigenen institutionellen Versäumnissen zu stellen, reagierte die Waldorfbewegung mit kommunikativer Verteidigung – es wird ein Narrativ konstruiert, das Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbewusstsein simuliert, während die Realität nachweislich von schweren Verfehlungen, Vertuschung und Verdrängung geprägt ist. Der Fall Überlingen steht damit exemplarisch für den von Betroffenen und Kritiker:innen immer wieder angeprangerten Umgang mit Missständen und Kritik: Selbstschutz stand hier vor Reflexion und Selbstkritik – auf Kosten der Wahrheit. Erst die Initiative der Betroffenen selbst brachte eine wirkliche Aufklärung des Waldorfskandals in Überlingen in Gang – drei Jahrzehnte nach den Taten.

Eine (nicht erfolgte) Aufarbeitung, die sich selbst lobt

Fest steht damit: Weder in der Folge der Verurteilung Konrad Z.s noch nach der Berichterstattung ab 2010 stellte sich das System der Waldorfschule seiner Vergangenheit; Aufarbeitung war geradezu verhindert worden. Unfassbar: Bei der 50-jährigen Jubiläumsfeier der Freien Waldorfschule Überlingen 2022 wird im Rahmen einer Fotoausstellung sogar ein Bild des kriminellen Ex-Lehrers aufgestellt – eine ehemalige Schülerin fordert die Schule entsetzt auf, dieses sofort zu entfernen. Daraufhin lädt die Waldorfschule Überlingen die ehemaligen Schüler:innen der Klasse Z.s zu einem Treffen ein. Bereits die Einladung empfinden manche Betroffene als unangemessen den Opfern gegenüber, nicht alle nehmen daran teil. Beim Austausch im Mai 2023 zeigt sich schnell, durch welche Hölle die damaligen Schüler:innen gingen, die Konrad Z. jahrelang schutzlos ausgeliefert waren. Auf Forderung der Betroffenen beginnt erst jetzt eine Aufarbeitung: Die externe Studie wird von der Schule in Auftrag gegeben, ein Gewalt- und Missbrauchskonzept erarbeitet.

Als das IPP 2025 seinen Bericht vorlegt, reagieren die Schule und der Bund der Freien Waldorfschulen zwar mit Betroffenheit – aber auch mit (Selbst-)Lob. Grundsätzlich wird die Entscheidung des neuen Vorstandes der Überlinger Waldorfschule, nach Forderung der ehemaligen Schüler:innen eine externe Prüfung zu beauftragen, auch von Kritiker:innen begrüßt. In Waldorf-Pressemitteilungen ist von „mutiger Aufarbeitung“ und „Verantwortungsübernahme“ die Rede. Der Bund der Freien Waldorfschulen erwähnt lobend den „Beitrag zur Selbstreflexion“ durch die Waldorfschule Überlingen. Doch waren es nicht maßgeblich der Mut und die Entschlossenheit der Betroffenen selbst, konsequent für ihr Recht auf Aufarbeitung einzustehen, die letztlich ausschlaggebend waren, das Schweigen zu brechen? Gleichzeitig betont Nele Auschra vom Bund der Freien Waldorfschulen, dass es sich um einen tragischen Einzelfall handle, denn „quantitative Studien zu dem Ausmaß von Missbrauchsfällen an Waldorfschulen im Vergleich mit anderen Schulformen liegen derzeit nicht vor“.

Aus dem IPP-Bericht lassen sich jedoch klare systemimmanente Risikofaktoren ableiten – und die Notwendigkeit einer externen Kontrolle, die eine Reproduktion solcher durchbrechen kann, ist sehr deutlich formuliert: Die Forscher:innen sprechen von verschiedenen, „teilweise systemische(n) Aspekte(n), die sowohl sexualisierte und andere Gewaltformen als auch deren De-Thematisierung begünstigten“ – diese hängen laut Bericht zwar grundsätzlich mit Machtgefällen zusammen. Aber: Sie zeigen „vor dem Hintergrund der angeführten ideologischen Implikationen (…) im Kontext stark anthroposophisch geprägter Waldorfschulen“ spezielle Ausprägungen, „die sich vor allem an der Imagination von Reinkarnation, karmischer Bestimmung, an der Figur des Lehrers, dem damit verbundenen Verständnis des Kindes und der Idee von Strafe ablesen lassen“. Der IPP-Bericht lässt nicht nur eine Kritik an Waldorf-internen Strukturen erkennen, sondern auch konkret an der Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Opfer vor 30 Jahren.

Kein Einzelfall, sondern ein Systemversagen

Die Forscher:innen stellen unmissverständlich klar, dass der Fall Konrad Z. kein bloß isoliertes Ereignis war. Die Gewalttätigkeit des Lehrers war in der Schule bekannt und wurde laut Bericht wiederholt bagatellisiert und in Schutz genommen. Es gab zudem weitere Selbstmeldungen von Lehrkräften an der Waldorfschule Überlingen wegen gewaltvollen Verhaltens – und niemand fragte danach, ob es darüber hinaus zu nicht gemeldeter Gewalt gekommen war. Ehemalige Lehrkräfte berichten außerdem, es sei bereits während Konrad Z.s Zeit an der Schule zu weiteren Grenzüberschreitungen durch Lehrende gekommen – über zwei andere Lehrer gab es „immer wieder Gerüchte“, sie hätten sich Mädchen gegenüber übergriffig verhalten. Diesen Hinweisen sei die Schulleitung jedoch nicht nachgegangen. Und: Beziehungen zwischen Lehrkräften und Schülerinnen in der Oberstufe seien „in altmodischer Art und Weise unter den Teppich gekehrt“ worden, heißt es weiter im Bericht.

Das Fazit der Forscher:innen ist eindeutig: Der Missbrauch durch Konrad Z. war kein Einzelfall, sondern Symptom einer institutionellen Kultur, die Übergriffe bagatellisierte und Missstände verschwieg. Erstaunlich sei, so das IPP, dass bis zur Einführung eines erstmaligen Schutzkonzeptes ab 2022 keine Schulung zum Thema sexualisierte Gewalt für das gesamte Kollegium stattfand – trotz wiederholter Hinweise auf strukturelle Risiken und Übergriffe. Kritisch reflektiert wird zudem der Waldorf-interne Umgang mit den ehemaligen Schüler:innen und deren Familien bis heute. Statt den Opfern Vergebung und Zukunftsorientierung nahezulegen – laut Betroffenen u. a. in dem Rahmen geschehen, in dem sie mit Blick nach vorne zur Mitwirkung am künftigen Gewaltpräventionskonzept aufgerufen wurden –, hätte zunächst ihr Recht auf Aufarbeitung und Täterverantwortung klar ins Zentrum gerückt werden müssen.

Denn der Weg zu echter Heilung kann nicht davon getrennt werden, dass die Institution sich vollumfänglich ihrer Verantwortung stellt und auch (Mit-)Täter:innen zur Rechenschaft zieht. Der Bund der Freien Waldorfschulen konnte nach eigener Aussage auf Anfrage nicht ein einziges Dokument zum Fall in Überlingen mehr finden. Und die damaligen Entscheidungsträger? Sie schweigen bis heute – und sind z. T. immer noch (beratend) für die Waldorfschulpädagogik tätig. Dazu verliert die Waldorfgesellschaft in ihren öffentlichen Stellungnahmen kein Wort.

Der Preis des Schweigens

Die Folgen spüren die Betroffenen bis heute. Ein Opfer der Gewalt durch Z. hat laut Berichten ehemaliger Mitschüler:innen später eine schwere Alkoholsucht entwickelt und ist an den Folgen dieser Belastungen gestorben. Ein weiterer ehemaliger Schüler erzählt im Dorfgemeinschaftshaus Überlingen-Nußdorf von einem fröhlichen, ausgelassenen Jungen – der er einst war und der nach den traumatischen Gewalterfahrungen durch den Lehrer Z. in der Waldorfschule Überlingen niemals wieder derselbe sein konnte: „Aus dem wilden Kind wurde ein trauriges, in sich gekehrtes Kind“. Es sind erschütternd offene Worte, die für Betroffenheit sorgen: „Ich glaube, diese Erfahrung – vollkommen schutzlos diesem schwer kranken Menschen ausgeliefert gewesen zu sein – hat tiefe Wunden in meiner Seele hinterlassen“ (Schwäbische Zeitung). Für viele Betroffene ist der IPP-Bericht kein Abschluss, sondern eine Mahnung: Dass Aufarbeitung ohne Verantwortung keine Heilung bringen kann.

Der Bericht zum Missbrauchsfall an der Waldorfschule Überlingen ist somit auch ein Mahnmal. Er zeigt, wie pädagogische Ideale zur Tarnung für Machtmissbrauch dienen können – und eine Schulgemeinschaft lieber wegsieht, beschönigt oder schweigt, wenn Transparenz und Kontrolle fehlen und Loyalität wichtiger ist als Wahrheit und Kinderschutz. Der IPP-Bericht ist kein Abschlussbericht, sondern ein Auftrag: in erster Linie an die Waldorfbewegung, ihre Strukturen zu überprüfen, ihre Verantwortung und (Mit-)Schuld konsequent aufzuarbeiten; aber auch an Politik und Behörden, trotz Privatschulfreiheit klare Kontrollen einzurichten – sowie an die Gesellschaft, nicht länger zu glauben, dass vermeintlich „gute Absichten“ vor Missbrauch schützen oder diesen rückblickend entschuldigen könnten.

Er ist auch eine Warnung, genauer hinzusehen und gegen gemeinschaftlichen Zwang, Vertuschung und Schuldumkehr seine Stimme zu erheben, selbst wenn es unerwünscht oder unbequem sein sollte. Denn hinter den schönen Worten von institutioneller Freiheit, pädagogischer Bedürfnisorientierung und Vertrauen kann sich eine Hölle verbergen, deren Aufdeckung und Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist.

Ausgewählte Quellen und Literatur

Rechtlicher Hinweis: Sämtliche im Beitrag enthaltenen Tatsachenbehauptungen stützen sich auf öffentlich zugängliche Quellen, insbesondere auf den Abschlussbericht des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) zur „sexualisierten, körperlichen und psychischen Gewalt an der Freien Waldorfschule Überlingen 1990–1993“ (veröffentlicht 2025), auf ergänzende journalistische Recherchen (u. a. Krautreporter, Schwäbische Zeitung) sowie auf Aussagen von Zeitzeug:innen. Im Vorfeld wurden zudem Hinweise ehemaliger Schüler:innen eingeholt und in die Darstellung integriert. Der Beitrag folgt weitestgehend der Darstellung im IPP-Bericht und nimmt ausdrücklich Bezug auf dort dokumentierte Geschehnisse, Bewertungen und systemische Einordnungen. Wertungen und Einschätzungen beruhen auf diesem Tatsachenkern und fallen unter die durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsfreiheit.

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