Initiative für Aufklärung und Betroffenenschutz

Die dänische Waldorf-Krise: Ex-Schulleiter:innen erheben schwere Vorwürfe

Nach einer Zwangsschließung und neuen Enthüllungen steht das Steiner-System in Dänemark unter Beobachtung – weit über Aalborg hinaus

In Dänemark ist aktuell eine öffentliche Debatte entbrannt, die mehrere dänische Waldorfschulen betrifft und weit über einen Einzelfall hinausweist: Ehemalige Schulmitarbeiter:innen und Betroffene verschiedener Waldorfeinrichtungen („Steiner-Institutionen“) in Aalborg, Vordingburg und weiteren Regionen haben zuletzt, u.a. in einer aktuellen TV-Dokumentation, von pädogogischer Vernachlässigung, verweigerter Förderung, Mobbing, Einschüchterung, ideologischer Kontrolle und einer Kultur des Schweigens berichtet. Parallel wurde bekannt, dass die Aalborg-Einrichtung bereits 2022 zur Schließung einer angeschlossenen Kindertagesstätte gezwungen wurde – ein alarmierender Eingriff durch die Kommune. Was sind die Hintergründe der Debatte?

Kritiker:innen, Beobachter:innen und verschiedene Plattformen sehen in den aktuellen Entwicklungen deutliche Symptome schwerer systemischer Defizite in mehreren dänischen Steiner-Einrichtungen – zwischen spiritueller Verpflichtung, pädagogischer Freiheit und fehlender öffentlicher Kontrolle. Hier geht es sowohl um bereits belegbare Fakten, als auch um schwerste im Raum stehende Vorwürfe, die auf strukturelle Probleme und alarmierende Missstände eines ganzen Schulsystems hindeuten.

Es beginnt mit zwei Schulleiterinnen, die einst schwiegen – und die nun nicht mehr schweigen wollen. Eine von ihnen ist Nanna Tribler, ehemalige Leiterin der Aalborg Steinerskole, die neben einer weiteren Ex-Waldorfschulleitung im Frühjahr 2025 in einer TV-Dokumentation von TV 2 Danmark vor die Kamera tritt. Mit ruhiger Stimme beschreibt Tribler, was sie in ihrer Schule erlebt habe: unzureichende Förderung und fehlende Inklusion, Mobbing und ein Klima aus spiritueller Überhöhung, Angst und Schweigen. Sie spricht von Kolleg:innen, die sich gegenseitig kontrollierten, von bedenklichen Machtstrukturen, von Kindern, die nach anthroposophischen Vorstellungen beurteilt wurden – Karma, Reinkarnation, „Entwicklungsstufen der Seele“.

Die kritischen Worte der TV-Doku treffen einen Nerv – nicht nur in Dänemark. Innerhalb weniger Tage wird die Dokumentation hunderttausendfach aufgerufen. Weitere frühere Mitarbeiter:innen und Betroffene treten hinzu, schildern ähnliche Erfahrungen an unterschiedlichen Waldorfschulen. Was als pädagogisches Ideal begann, wird laut dieser Schilderungen plötzlich als System sichtbar, das Kritik nicht zulasse, immer wieder sogar mit Härte bekämpfe.

Aalborg: Vom pädagogischen Ideal zum Fall für die Behörden

Im Zentrum der dänischen Debatte stehen drei konkrete Waldorfschulen, eine davon in Aalborg im Norden Jütlands, und mit ihr ein Skandal, der eigentlich schon zwei Jahre früher begonnen hat. 2022 greift die Kommune zu einer drastischen Maßnahme: Sie schließt zwangsweise die Kindertagesstätte „Morgenfruen“, eine Einrichtung im Umfeld der Aalborg Steinerskole. Es ist ein Schritt, den dänische Aufsichtsbehörden nur in Ausnahmefällen wagen. Der Grund: eine Reihe schwerer Verstöße gegen Sicherheits- und Aufsichtspflichten.

Die dokumentierten und vorgeworfenen Mängel in der Aalborger Waldorf-Kita reichten von pädagogischer Vernachlässigung über gefährliche Situationen: Jüngere Kinder seien unbeaufsichtigt über Zäune geklettert, hätten unbeaufsichtigt Steine in den Mund genommen, eines habe über zwanzig Minuten allein auf einer Bank gesessen, bevor es einschlief – ohne dass ein:e Erzieher:in eingriff. So steht es in den Berichten des kommunalen Tilsyns, die DR Nordjylland und TV 2 Nord öffentlich machten. Die Stadt begründete die Schließung mit „systematischer Vernachlässigung pädagogischer Verantwortung“. Ein Jahr später greift Ekstra Bladet, eine der größten Tageszeitungen des Landes, den Fall wieder auf. Es sei, heißt es dort, die „erste zwangsweise Schließung einer Waldorf-Institution in Dänemark seit Jahren“. Ein klares Signal: Die Geduld der Behörden war erschöpft.

Ex-Leiterin Nanna Tribler schildert vor der Kamera von TV 2 gravierende Missstände an der Waldorfschule Aalborg, die längst nicht nur organisatorischer Art gewesen seien, sondern tief in den Strukturen des Systems verankert. Als sie die Leitung der Schule antrat, stand diese bereits unter strenger Aufsicht durch dänische Behörden. Ihre Aufgabe sei es gewesen, die Missstände anzugehen und die Schule aus der Krise zu holen – doch zu tief seien die gravierenden strukturellen Probleme gegangen, als dass ihr dies hätte gelingen können. In der Dokumentation beschreibt sie ein Kollegium, das in sich gekehrt sei, beherrscht von einem inneren Kodex. Kritik sei als mangelnde „geistige Reife“ gedeutet worden und unerwünscht. Wer Zweifel äußerte, habe schnell als „nicht in Harmonie mit der Mission“ gegolten. „Man lernt, seine Stimme zu senken“, sagt Tribler im Interview. „Man lernt, was man nicht sagen darf.“

Kultur des Schweigens – schwere Vorwürfe gegen mehrere dänische Waldorfschulen

Andere frühere Führungskräfte und Mitarbeiter:innen bestätigen ähnliche Erfahrungen. Sie sprechen in der Dokumentation von spirituellem Druck, von „pädagogischen Dogmen“, die aus der Lehre Rudolf Steiners abgeleitet und nicht hätten hinterfragt werden dürfen. Hier stehen schwere Vorwürfe im Raum – aus unterschiedlichen Regionen, von Menschen mit Leitungsfunktion, die unabhängig voneinander sich ähnelnde Muster beschreiben. Genau das verleiht der Sache Gewicht. In den öffentlichen Kommentaren zum TV-Beitrag melden sich auch (ehemalige) Eltern der Aalborger Waldorfschule: Einige verteidigen die Schule, andere berichten von ähnlich bedrückenden Erfahrungen.

Im Zentrum der Kritik steht des Weiteren die Rudolf Steiner Skolen Vordingborg, die seit 2025 ebenfalls unter strengster Aufsicht der dänischen Behörden steht und der verschiedene Verstöße gegen gesetzliche Regelungen, besorgniserregende Arbeitsabläufe, fehlende Fördermaßnahmen für Schüler:innen mit besonderem Bedarf und gravierende Qualitätsdefizite des Unterrichts vorgeworfen werden. Explizit belasten die Aussagen der früheren Leiterin und Lehrerin, Christina Solingen, die Vordingburger Schule.

Auch die dänische Waldorfschule Kvistgård steht medial in der Kritik, u.a. wegen schwerer Mobbingvorfälle, die nicht schnell genug adressiert worden seien. Die Schule distanzierte sich ausdrücklich davon und verwies auf ihre Anti-Mobbingstrategie. Ebenso die Freja Steiner Skolen in Midtsjælland stand wegen des Vorwurfs pädagogischer Missstände in der Kritik. Die zentrale Kritik der dänischen TV-Dokumentation geht dabei deutlich über den pädagogischen Alltag hinaus und betrifft strukturelle Fragen – etwa: Wie werden Berichte über Missstände intern behandelt und wer hat Zugang zu Information?

Antwort der Waldorfschule: Anzeige gegen Ex-Schulleiterin

Die Aalborger Waldorfschule hat ihre ehemalige Schulleiterin, Nanna Tribler, laut dänischen Medienberichten bei der Polizei angezeigt – wegen angeblicher Verleumdung und Verletzung der Schweigepflicht. Das ist ein harter Schritt, der jedoch für Beobachter:innen durchaus nicht überraschend kommt. Es ist nicht das erste Mal, dass Waldorfeinrichtungen auf öffentliche Kritik und die Offenlegung vorgeworfener schulischer Missstände mit juristischen Mitteln reagieren, um ihren Ruf zu verteidigen.

Gleichzeitig befeuert dies die Debatten um das geschilderte Klima der Angst vor öffentlicher Kritik und Repressalien – und verschiebt einmal mehr die Auseinandersetzung von der pädagogischen in die rechtliche Sphäre. Statt einer Aufarbeitung beginnt dann ein Abwehrkampf: Während die Einrichtung die Kritik von sich weist und ihre Kritiker:innen angreift, werfen diese der Schule Einschüchterung, Drohung und ein wiederholtes Muster der Schuldumkehr vor. Ein solcher Fall wird schnell zum Symbol der altbekannten Debatte: Wie viel Wahrheit darf man sagen – insbesondere dann, wenn man aus dem Inneren einer in sich geschlossenen (anthroposophischen) Institution kommt?

Ein Muster, das in verschiedenen Ländern diskutiert wird

Was sich in konkreten dänischen Waldorfschulen, u.a. in Aalborg und Vordingburg, abspielt, ist mehr als ein lokaler Konflikt. Es zeigt die Grenzen der Selbstregulierung freier Schulen – und die Spannungen zwischen religiös-spirituellem Erbe und moderner Bildungsaufsicht. Schon zuvor hatten dänische Medien berichtet, dass mehrere Steiner-Schulen unter verschärfter Aufsicht standen. Die Kommune Aalborg veröffentlichte Listen mit Auflagen: verpflichtende Nachschulungen, Dokumentationspflichten, Austauschprogramme mit öffentlichen Schulen.

Kritiker:innen sehen darin einen längst überfälligen Eingriff. „Es geht nicht um Pädagogik“, sagt eine ehemalige Lehrerin anonym in einem Blog. „Es geht um Macht. Um Deutungshoheit.“ Das Forum, das seit Jahren Berichte zu Waldorf-Einrichtungen in Skandinavien sammelt, dokumentiert systematisch die Vorfälle u.a. rund um Aalborg – mit Verweisen auf offizielle Quellen, Aufsichtsakten und Presseberichte. So entsteht ein doppeltes Bild: Einerseits eine Bewegung, die sich auf „ganzheitliche Bildung“ beruft, andererseits eine Struktur, die durch spirituelle Deutung und geschlossene Organisationskultur transparente Kontrolle deutlich erschwert und massiv in der Kritik steht.

Von Dänemark nach Europa: ein internationales Echo

Dass ausgerechnet Dänemark – eigentlich Inbegriff pragmatischer Schulpolitik – nun ein Exempel an konkreten Waldorf-Einrichtungen statuiert, hat Signalwirkung. In Frankreich stehen die „Écoles Steiner-Waldorf“ seit 2023 unter verschärfter Beobachtung, u.a. durch die staatliche Anti-Sekten-Behörde. Die Schulen wurden flächendeckend inspiziert, manche temporär geschlossen oder ihnen wurden Auflagen verhängt. In Deutschland führen Landesaufsichten zum Teil Sonderprüfungen durch, oft jedoch erst nach gehäuften Elternbeschwerden und dokumentierten Missständen. Während deutsche Waldorfschulen bis zu 80 Prozent ihrer Finanzierung vom Staat erhalten, wird gleichzeitig die Privatschulfreiheit hierzulande hochgehalten, so dass sich die Durchsetzung gesetzlich garantierter Standards, die grundsätzlich auch in privaten Einrichtungen gelten, in der Praxis als schwierig gestalten kann.

In Waldorfeinrichtungen verschiedener Länder werden immer wieder ähnliche Muster beschrieben: die Rede ist von Leitungsstrukturen, die interne Kritik als illoyal deuten, einer Pädagogik, die von Betroffenen, ehemaligen Eltern und Kritiker:innen als spirituell gefärbt, dogmatisch, autoritär und intransparent beschrieben wird, von Behörden, die z.T. erst spät eingreifen und von ehemaligen Mitarbeiter:innen, die über Schweigen, Druck, repressive Machtstrukturen und spirituelle Überhöhung sprechen. Die dänischen Fälle liefern einen deutlichen Beleg dafür, wie diese Dynamik eskalieren kann, wenn Kontrolle und Selbstverständnis kollidieren.

Was bleibt

Bis heute ist offen, wie die dänische Justiz im Fall der Ex-Schulleiterin Nanna Tribler verfährt. Die Aalborger Waldorfschule hat sich öffentlich bisher kaum geäußert. Sicher ist jedoch: Die Debatte hat wieder etwas in Bewegung gesetzt – in der öffentlichen Wahrnehmung, in der Politik wie auch in Waldorfkreisen. Eltern und Beobachter:innen fragen vermehrt nach Aufsichtsberichten, Lehrkräfte diskutieren intern über Transparenz und selbst langjährige Waldorf-Sympathisanten sprechen z.T. von einem „Moment der Wahrheit“.

Was an konkreten dänischen Waldorfschulen wie der Aalborg Steinerskole geschah – dokumentiert, behauptet oder bestritten – lässt sich als Brennglas lesen. Es zeigt eine Pädagogik, die zwischen Idealismus und Intransparenz schwankt, und eine Bewegung, die sich der lauter werdenden Kritik stellen muss – über pädagogische und öffentliche Verantwortung, geistige Freiheit und den Ruf nach demokratischen Bildungsstrukturen. Oder, wie eine ehemalige Lehrerin es in der TV-Doku formuliert: „Es geht nicht darum, ob man an Karma glaubt. Es geht darum, ob man Kinder schützt.“

Quellenauswahl:
TV 2 Danmark / TV 2 Nord (Doku-Hinweise, 2025); DR Nordjylland (Berichte über Zwangsschließung, 2022); Ekstra Bladet (Artikel vom 16. 5. 2025: Steiner-institution tvangslukket); Steinerkritisk Forum (Dossiers 2024–2025); Aalborg Kommune (Tilsyns- und Schließungsbescheide).

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